Fachtag 2017

Emotionale Wohlstandsverwahrlosung bei Kindern und Jugendlichen

8. Fachtag an der Evangelischen Hochschule Berlin

Am 10. November 2017 trafen sich im Audimax der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) Wissenschaftler, Fachkräfte und Studierende der Sozialen Arbeit, um das kaum erforschte Thema „Emotionale Wohlstandsverwahrlosung bei Kindern und Jugendlichen“ zu diskutieren. Diese, seit den 90er Jahren spürbar zunehmende Tendenz zeigt sich gerade in gutbürgerlichen, nach außen intakten Familien. Immer häufiger müssen sich Sozialpädagogen in der Jugend- und Familienhilfe, in Jugendfreizeiteinrichtungen und oder im Rahmen des Begleiteten Umgangs mit den Symptomen von finanziell gut ausgestatteten, aber emotional unterernährten jungen Menschen auseinandersetzen: Aggressionen, Wut, Ängste, Konsum, Drogensucht.
Wohlstand bedeutet nicht Problemlosigkeit!

Nach einer Begrüßung durch Prof. Dr. Birgit Steffens von der EHB und Dr. Winfried Glück von Zephir gGmbH gab Referent Ralf Liedtke, Leiter des Bereiches Jugendhilfe im Diakonischen Werk, einen kurzen thematischen Input. Am Nachmittag wurden in zwei Gruppen zu den Bereichen „Offenen Jugendarbeit“ und „Familienhilfe“ Erfahrungen ausgetauscht und Handlungsansätze formuliert.

Thesen zu Ursachen der emotionalen Verwahrlosung bei Kindern und Jugendlichen

„Fehlende gemeinsame Zeit“
Eltern verbringen immer weniger Zeit mit ihren Kindern. Steigende berufliche Belastungen, zu geringe Flexibilisierung der Arbeitswelt in Hinblick auf Arbeitszeit, Wochenstunden und qualifikationsadäquate Teilzeitarbeitsplätze sowie der eigene Wunsch oder die wirtschaftliche Notwendigkeit, Karriere zu machen, um Anerkennung und hohes Einkommen zu erzielen, kosten Eltern viel Zeit und Kraft. Als Folge ist das Bedürfnis nach Regeneration hoch, ebenso aber auch der Wunsch groß, eigenen Interessen nachzugehen. Kinder kommen deutlich zu kurz. Zeit und Zuwendung sind aber wichtige Faktoren für die emotionale Sicherheit der Kinder. Beides ist bedroht.

„Fehlende Erziehung in der Familie“
Erziehungs- und Bildungsaufgaben verlagern sich zunehmend in Kitas und Schulen. Erziehung ist zur Dienstleistung geworden, die außerhalb der Familien erbracht wird. Die „Dienstleister“ Schulen und Kitas stehen unter hohem Erfolgsdruck. Doch um wirksam zu sein, müssen auch die Eltern mitwirken. Die staatliche Intervention durch die Einführung von Ganztagsschulen zur Verbesserung der Erziehung und Bildung zeigt wenig Wirkung. „Erziehungsarmut“ wird ebenso wie monetäre Armut und Reichtum von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

„Neue Familienformen“
Das traditionelle Familienmodell von Vater, Mutter und leiblichen Kindern ist längst überholt. Alleinerziehende, Stiefeltern und Patchworkfamilien fordern Eltern wie Kinder. Die klassische Elternrolle weicht neuen Freundes- und Partnermodellen. Kinder verlieren die Orientierung, sind überfordert und finden nicht mehr die klare Struktur, die sie als Heranwachsende zur Ausbildung einer stabilen Persönlichkeit brauchen.

„Leistung statt Freizeit“
Ein Beispiel aus der Praxis: Leon, 7 Jahre alt, Schüler der zweiten Klasse, geht nach dem Unterricht noch zur Schach-AG, zur Computer-AG, zum Basketball und zum Fußball. Seine Woche ist übervoll, Zeit zum Spielen und einfach Kind sein bleibt kaum. Eltern haben Angst vor einem Bildungsrückstand ihrer Kinder. Frühförderung soll am besten schon im Kindergarten beginnen, spätestens aber in den ersten Schuljahren. Kinder werden mit Leistungsanforderungen überfrachtet und scheinbar sinnvoll beschäftigt, während die Eltern arbeiten. Das beiderseitige Bedürfnis nach Ruhephasen wird ignoriert.

„Mangel an Vorbildern + Werten“
Alles ist möglich! In einer sich schnell verändernden, globalisierten Welt gibt es viele Optionen, Lebenskonzepte und Ziele. Ideale und Werte ändern sich ständig oder sind ganz verloren gegangen. Die verunsicherten Eltern sind nicht mehr in der Lage, Kindern eine klare Werteorientierung zu bieten oder ihre Vorbildfunktion wahrzunehmen. Kinder erleben Widersprüche und Ambiguitäten, die sie nicht auflösen können.

Kann Erziehung überhaupt noch stattfinden, wenn Werte nicht mehr erkennbar sind? Gilt die Formel „Einkommen = Wohlstand = Erfolg“ noch und brauchen Kinder nicht mehr Zuwendung statt materiellen Wohlstand?

„Gestörte Bindungsfähigkeit“
Sozialpädagogisch tätige Fachkräfte stellen in ihrer Praxis bei Eltern immer häufiger eine fehlende Bindungsfähigkeit fest. Die Bereitschaft, sich mit den eigenen Kindern zu beschäftigen, sich Zeit zunehmen und gemeinsames Erleben zu gestalten, ist oft gering, Ideen fehlen. Positive Emotionen werden immer weniger gezeigt, zwischenmenschliche Zuwendung, verbal wie nonverbal, ist selten.

Im Plenum und in den Arbeitsgruppen wurden folgende Handlungsansätze entwickelt:

  • Forschungsaufträge zu „Emotionaler Wohlstandsverwahrlosung“ erteilen
  • Bindungsfähigkeit der Eltern fördern
  • Diskussion über Werte und Erziehung mit den Eltern
  • Kindern mehr Selbstwirksamkeit vermitteln
  • Gemischte Teams in der Sozialarbeit: Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter, Erzieher und lebenserfahrene Quereinsteiger
  • Wirtschaftliche Sicherung durch staatliches Grundeinkommen