Rechenschwäche/Dyskalkulie

Rechenschwäche und was sie bedeutet

Besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens werden unter dem Begriff Rechenschwäche (Dyskalkulie) zusammengefasst. Kinder mit Rechenschwäche haben Schwierigkeiten, Strategien im Umgang mit Mengen und Zahlen sowie Einsichten in die mathematischen Operationen aufzubauen. Sie halten am zählenden Rechnen fest und können die Zahlbeziehungen nicht automatisieren. Dies führt zu einer starken Belastung des Arbeitsgedächtnisses und einer sehr hohen Konzentrationsleistung, wodurch sich individuelle, fehlerhafte Rechenstrategien festsetzen.

Therapie

Die Therapie von Dyskalkulie folgt den Grundlagen der Vermittlung der mathematischen Basiskompetenz und orientiert sich an folgenden Grundsätzen:
  • Der Lerninhalt richtet sich nach den Interessen und Bedürfnissen des Kindes und spricht komplexe, lebensnahe Problembereiche an.
  • Grundlegend für das mathematische Verständnis ist das konkrete Handeln mit Material und die systematische Hinführung zur symbolischen Ebene.
  • Durch das Durcharbeiten einer Aufgabe wird das Verständnis zum Aufbau von Strukturen und die Beweglichkeit des Denkens gefördert. Außerdem können Fähigkeiten ausgebildet werden, um neue, komplexe Zusammenhänge zu erschließen.
  • Rechenfehler sind nicht unerwünscht. Sie werden konstruktiv genutzt, um ungeeignete Strategien und mathematische Vorstellungen aufzudecken.
  • Wie bei der verbalen Selbstinstruktion wird das „laute Denken“ genutzt, um Vorausplanungen und die gedankliche Aufgliederung einzelner, aufeinander bezogener Handlungsschritte zu fördern.

Wie Sie Ihrem Kind aktiv helfen können

Sie erleben, dass Ihr Kind besondere Schwierigkeiten beim Rechnen hat und fragen sich, was Sie tun können, um es zu unterstützen? Zunächst sollten Sie Ihrem Kind Wertschätzung und Anerkennung schenken, ohne diese an besondere Schulleistungen zu knüpfen! Darüber hinaus sollten Sie versuchen zu verstehen, was es für Ihr Kind heißt, rechnen zu lernen: Es verfolgt den anspruchsvollen Weg, Tätigkeiten aus dem Alltag als Rechenoperationen auf der Ebene symbolischer Schreib- und Handlungsanweisungen durchzuführen. Dies ist der lange Weg von der Handlung zur Vorstellung und mathematischen Begriffsbildung.

Die Bewertung der Fehlerarten beim Rechnen, die sogenannte qualitative Fehleranalyse, kann deutlich machen, von welchen Gedanken Ihr Kind beim Rechnen geleitet ist. So wird deutlich, dass Ihr Kind nicht unaufmerksam oder gleichgültig den Aufgaben gegenübersteht, sondern die fehlerhaften Ergebnisse zumeist das Resultat angestrengten Nachdenkens sind. Ihr Kind entwickelt hochkonzentriert Rechenstrategien, die sich aber leider für die konkrete Aufgabenstellung als ungeeignet erweisen. 

Nun kann es passieren, dass Sie neben Ihrem Kind bei den Hausaufgaben sitzen und schon eine ganze Weile auf die richtige Antwort warten. Vielleicht möchten Sie Ihr Kind nun freundlich und nachdrücklich daran erinnern, sich etwas zu beeilen und auch ein wenig anzustrengen: „Jetzt konzentrier dich doch mal!“ Dann denken Sie daran, dass Ihr Kind vermutlich gerade hochkonzentriert daran arbeitet, einen Weg aus einer Sackgasse zu finden…

Wie Fehler helfen, lässt sich an einem einfachen Beispiel gut nachvollziehen: Ein häufig auftretender Fehler wird in der Fehleranalyse als „Verrechnen um 1“ vermerkt. Er ist ein Zeichen für zählendes Rechnen und Ihr Kind verrechnet sich nicht, sondern verzählt sich um 1 (vgl. Gaidoschik, Michael (2010): Rechenschwäche – Dyskalkulie. Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern. Persen Verlag, Buxtehude; S.34). Dies könnte z.B. bei der Aufgabe 4+3 dadurch entstehen, dass Ihr Kind zwar 4 Finger auf einmal „zeigen“ kann, dann aber für die weiteren 3 mit dem 4. Finger als 1 weiterzählt, beim fünften Finger 2 zählt und schließlich beim 6. Finger 3: So gelangt es zu der Rechnung 4+3=6.

Zählen – und dann noch mit den Fingern – gilt gemeinhin als Alarmsignal dafür, dass sich bei Kindern eine Rechenproblematik entwickelt. An dieser Stelle ist es für Sie interessant, genauer hinzusehen, was eigentlich dahintersteckt.

Eine mathematische Grundvorstellung ist die mehrdimensionale Zahlvorstellung, die sich gemäß dem methodisch-mathematischen Denken zu einem Zahlenbegriff entwickelt. Eine Zahl als Menge zu verstehen, die eine bestimmte Anzahl von Elementen enthält, ist Teil der kardinalen Zahlvorstellung. Beim Zählvorgang selbst wird jedem Element ein Zahlwort zugeordnet, das nicht eine Menge, sondern einen Rangplatz symbolisiert. Dies ist Teil der ordinalen Zahlvorstellung.

Für die Entwicklung der Rechenfertigkeiten ist es wesentlich, dass immer beide, die kardinale und die ordinale Zahlvorstellung, mitgedacht werden. Beim zählenden Rechnen ist die Vorstellung von der Zahl als Menge (= Wie viel?) verloren gegangen.

Zählend rechnen bedeutet also, sich auf einen Rangplatz hoch– oder runterzuarbeiten. Die aufeinanderfolgenden Zahlwörter sind auswendig gelernte Zahlreihen, die in keiner Beziehung stehen. Auswendig gelernt lassen sie sich nur schwer merken. Vielleicht haben Sie schon erlebt, dass es für Ihr Kind manchmal schwierig ist, bei einer beliebigen Zahl einzusetzen und weiterzuzählen.

Vielleicht können Sie dies nachempfinden: Sie wollen sich im Duden vergewissern wie das Wort opulent (oder opullent?) geschrieben wird. Beim Blättern fragen Sie sich dann: Welcher Buchstabe kommt denn vor dem O im ABC? Sie buchstabieren leise l,m,n – o! Die Buchstaben im Alphabet stehen für uns auch nicht in einer sinnstiftenden Ordnung und wir müssen sie auswendig lernen. Ihre Anzahl ist begrenzt – die Zahlenreihen und die erweiterten Zahlenräume sind dagegen unendlich.

Die kardinale Zahlvorstellung beinhaltet das Wissen, dass jede Zahl eine Menge beschreibt. Die Ziffer symbolisiert die Anzahl der in dieser Menge enthaltenen Elemente. Wenn dies wahrgenommen wird, kann die Nachbarzahl als „1 mehr“ oder „1 weniger“ verstanden und eine relationale Zahlvorstellung aufgebaut werden. Dann verbindet sich mit dem Zahlensymbol ein Mengenbild, das die Gedächtnisleistung unterstützt. Es bietet die Grundlage dafür, dass Zahlen zerlegt werden können, also mit ihnen gerechnet werden kann.

Und wie können Sie nun den oben geschilderten Prozess der Begriffsbildung vom konkreten zum gedanklichen Handeln bei Ihrem Kind unterstützen? Sie nutzen Fingerbilder oder anderweitiges Material, das Ihr Kind aus der Schule kennt. Dadurch werden Mengen im konkreten Handeln erfahrbar. In kleinen Schritten lösen Sie Ihr Kind von der konkreten Handlung, indem es diese zunächst in Worte fasst, solange bis es die Handlung nur noch in der Vorstellung ausführt.

Das ist der Grundgedanke des sogenannten „Vier-Phasen-Modells“ (vgl. Wartha, Sebastian; Schulz, Axel (2017): Rechenproblemen vorbeugen. Cornelsen Verlag, Berlin; S.62ff.), mit dem Sie diesen Prozess unterstützen können:

1. Ihr  Kind löst die Aufgabe handelnd am konkreten Material und erklärt dabei, was es tut.

2. Anschließend erklärt Ihr Kind Ihnen die Handlung, ohne selber zu handeln, und kann dabei auf das Material sehen.

3. Dann erklärt es Ihnen die Handlung, ohne das Material zu sehen. Dabei ist es darauf angewiesen, sich die Handlung vorzustellen.

4. Schließlich arbeitet Ihr Kind auf der symbolischen Ebene, übt und automatisiert. Dabei aktiviert es die Handlung von eben in seiner Vorstellung.

Das Vier-Phasen-Modell veranschaulicht den weiten Weg von der Handlung zur Vorstellung, ermöglicht Ihnen aber gleichzeitig mit Ihrem Kind über die Aufgaben ins Gespräch zu kommen.

Der gesamte Artikel als Download: „Rechenschwäche und was sie bedeutet“