Seit Jahrzehnten gefordert: mehr Inklusion
Über Inklusion reden alle politischen Kräfte in Deutschland – schon seit langem. Kein Parteiprogramm, in dem Inklusion nicht erwähnt würde. Und natürlich sprechen auch Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen über ihre Situation. Das müssen sie, um für ihre Rechte und ihre Gleichstellung mit Menschen ohne Beeinträchtigung einzutreten und zu kämpfen – immer noch. Denn Papier ist bekanntermaßen geduldig. Nicht alles, was zu einer gelebten Inklusion beitragen würde, findet auch seine Umsetzung.
Also, wie weit ist unsere Gesellschaft in den letzten Jahren tatsächlich vorangekommen? Eltern mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum sind besonders häufig mit den alltäglichen Hürden und den Folgen nicht umgesetzter Forderungen aus der anhaltenden Inklusionsdebatte konfrontiert. Sie machen regelmäßig und unfreiwillig den Praxis-Check: Greifen Maßnahmen oder laufen sie ins Leere? Müssen zuvor nicht noch bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden, bis die Unterstützung bei Menschen mit Beeinträchtigungen wirklich ankommen kann?
Die Mutter eines Kindes aus dem Autismus-Spektrum berichtet von ihren persönlichen Eindrücken und Erfahrungen aus der Praxis:
Inklusion heißt…!?
Wie hätten Sie diesen Satz beendet? Was verstehen Sie unter Inklusion? Für mich als Mutter eines Kindes im Autismus-Spektrum bedeutet Inklusion, dass jede Person die Möglichkeit hat, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, soweit diese sich darauf einlassen möchte. Der Duden definiert Inklusion im soziologischen Kontext als ein Mit-einbezogen-Sein und als gleichberechtigte Teilhabe an etwas. Im pädagogischen Kontext wird darunter auch die gemeinsame Erziehung beeinträchtigter und nicht beeinträchtigter Kinder in Kindergärten und (Regel-)Schulen verstanden. Die Charta der Vielfalt, der Diversitätstag und die vielen Institutionen, die mit dem Titel „Inklusion“ und „Gleichberechtigung“ werben, vermitteln uns, dass das Thema ernst genommen wird. In Berlin gibt es sogar das Recht auf einen inklusiven Schulplatz. Klingt doch toll, oder?
Und die Realität sieht anders aus…
Eigentlich schon, nur hat mich die Realität mit einer anderen Wahrheit konfrontiert. Was bringt meinem Sohn z.B. sein Anrecht auf einen inklusiven Schulplatz, wenn er für diesen nur fünf bis max. zehn Stunden/Woche unterstützendes Personal in Hinsicht auf seine dauerhaften Einschränkungen angeboten bekommt? Wie soll mein Sohn den Rest der Zeit alleine im Schulalltag zurechtkommen und wie seine Lehrer, deren eigentliche Aufgabe das Unterrichten ist? Das heißt, unser Sohn, wir Eltern oder die Schule wird schnell an den Punkt kommen, an dem wir die Situation für nicht mehr zumutbar halten und deshalb einer Nichtbeschulung oder einer verkürzten Beschulung zustimmen müssen. Denn Schulplätze für Kinder mit Förderbedarf gibt es viel zu wenige, was die Suche nach einem neuen, geeigneten Schulplatz zu einem Mammutprojekt macht. Eine solche Situation hat leider nichts mit Inklusion und Teilhabe zu tun.
Was mir jedoch noch mehr Bauchschmerzen als die Einschulung meines Sohnes macht, ist die derzeit häufiger festzustellende Verwässerung oder komplette Auflösung des Begriffs „Inklusion“. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen & Wohnen und das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf haben am 17.06.2024 zum Beispiel auf dem Kurznachrichtendienst „X“ mit den vorangestellten Worten „Modern und inklusiv“ veröffentlicht, dass die Schule am Pappelhof in Marzahn einen neuen modularen Ergänzungsbau erhalten hat. Jedoch handelt es sich bei der Schule am Pappelhof um ein Förderzentrum, in dem Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ in einer Form beschult werden, die die WHO als „separativ“ im Gegensatz zu „inklusiv“ betrachtet.
Die CDU, eine Partei der Mitte, stellt in ihrem Grundsatzprogramm 2024 (S. 32, Zeile 921 ff.) fest: „Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Beim Thema „Inklusion“ handelt es sich aus meiner Sicht um eine politische Einzelfrage, die eine Willensbildung bei Bürger- und Bürgerinnen voraussetzt. Weiter heißt es: Menschen mit Behinderungen sollten gleichberechtigt am Bildungs- und Arbeitsleben teilhaben und die professionelle Arbeit in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und in Behindertenwerkstätten würde geschätzt.
Der CDU steht es natürlich frei, wie sie ihre Parteiausrichtung gestaltet. Jedoch bleibt es fraglich, wieso die Wertevorstellungen der Separation und die parteipolitischen Interessen unter dem Titel „Inklusion“ versteckt werden müssen und hier in irreführender Weise verklausuliert präsentiert werden.
Leider mangelt es den Lobbyisten, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzen, häufig an tatkräftigen Unterstützern. Warum? Die Angehörigen und Betroffenen sind bereits im Alltag in einem Ausmaß beschäftigt, das man als „hauptberufliches Engagement“ bezeichnen kann. Sie haben einfach keine mehr Zeit. Täglich müssen sie um eine gute Förderung, Bildung, Arbeit und Pflege ringen. Nichts wird erleichtert, nichts läuft von selbst. Inklusion ist trotz jahrelanger Forderungen weiterhin noch nicht überall umgesetzt.
Warten auf täglich gelebte Inklusion
Menschen ohne Beeinträchtigung könnten nun aufgrund des häufig als Ziel deklarierten oder als „Ablesplaining“ (Bevormundende Erklärungen von Nicht-Behinderten, s. Definition unter https://www.urbandictionary.com/define.php?term=ablesplaining) formulierten Inklusionsbegriffes das Gefühl bekommen, die Inklusion sei in vollem Gange. Weniger Verständnis für Forderungen von Betroffenen, eine noch geringere Bereitschaft zur Unterstützung bei der Überwindung der bürokratischen Hürden und bei der Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen könnten die Folge sein.
Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH
Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.
Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de
Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.