Aktuelles

Autismus gibt es nur bei Genies?

Grafik "Autismus er-leben"

Menschen im Spektrum im Film – genial, integriert, unterhaltsam

Wie sieht Autismus im Alltag aus, wie leben Menschen in unserer Gesellschaft damit, wie und wo finden sie ihren Platz im Leben, im Beruf? Etliche Filme zeigen uns schon seit einigen Jahren ein sehr einseitiges Bild davon. In diversen Spielfilmen und Serien können wir sehr spezielle, wenig kontaktfreudige Charaktere aus dem Spektrum sehen. Sie sind irgendwie anders, das merkt man sofort. Sie führen ein äußerst strukturiertes Leben mit festen Regeln und Ritualen. Sie wirken dabei unruhig, äußerst verletzlich und eher in sich gekehrt. Langweilige Figuren könnte man meinen. Doch alle zeigen eine besondere Begabung und faszinieren mit brillanten kognitiven Fähigkeiten, die „normale“ Menschen nicht vorweisen können. Kurz: Sie sind meistens Genies und sie unterhalten uns!

Auf diese Weise kann sich Autismus äußern, aber nicht zwangsläufig. Er ist vielfältig, es gibt keine Schubladen wie „Autist = Genie“. Den Umgang mit einem Kind im Autismusspektrum müssen Eltern lernen, ihr Leben und ihre Erziehung darauf sehr flexibel abstimmen, Erwartungen und Träume verwerfen, ja mitunter ihr eigenes Wertesystem korrigieren. Sie brauchen viel Geduld und Verständnis, auch mit sich selbst.

Brücken bauen - eine realistischere Darstellung wäre hilfreich

Ihren Weg und ihre Erfahrungen beschreibt eine dreifache Mutter, einer ihrer Söhne befindet sich im Autismusspektrum. Sie wünscht sich von den Medien eine differenziertere und realitätsnahe Darstellung von Menschen im Autismusspektrum: ihre Stärken, ihre Schwächen, ihre Bedürfnisse und ihre Besonderheiten bei der Wahrnehmung. Dadurch könnte fundierteres Wissen über Autismus transportiert werden, welches dann beim direkten Umgang hilft, und auch mehr Verständnis entstehen.

Genie oder nicht, das ist nicht die Frage

Gerade frisch Eltern geworden, platzt man fast vor Stolz auf sein Kind. Wie schön es schon lächeln kann! Und jetzt sitzt es schon so toll! Und bald schon hat es so viele Freunde in der Kita, mit denen man sich immer super verabreden kann! Außerdem ist es schon so früh windelfrei! Und dann lernt es so schön lesen und schreiben, noch bevor es eingeschult wird! Und es wird zu jedem Kindergeburtstag eingeladen. Wir sind unglaublich stolz und lassen die Welt teilhaben an unserem Elternglück.

So habe ich auch einmal getickt. Und dann kam mein zweiter Sohn und stellte mein Denken auf den Kopf. Früh windelfrei? Einladungen zu Kindergeburtstagen? Lesen und Rechnen noch vor der Einschulung? Nicht mehr relevant! Ich habe jetzt andere Highlights.

Es hat ein paar Jahre gedauert, bevor ich mich von meinem alten Denken lösen konnte. Lange war ich damit beschäftigt, uns Eltern und meinen Sohn in bestimmte Muster pressen zu wollen. Habe gehadert, was ich falsch gemacht haben könnte, wo wir mehr unterstützen könnten, ob wir mit unserer Erziehung falsch liegen. Natürlich hat sich zudem auch durchaus der/die ein:e oder andere bemüßigt gefühlt, uns zu belehren, uns mitzuteilen, was wir in der Erziehung alles nicht richtig machen und dass es doch offensichtlich ist, was bei uns falsch läuft.

Erst im Laufe der Jahre habe ich gelernt, auf meine Beziehung zu meinem Kind zu vertrauen, anstatt auf gutgemeinte Ratschläge. Ich sehe mich als Expertin für meinen Sohn, nicht die anderen, die vielleicht mehr Jahre Lebenserfahrung und vermeintlich mehr fachlich-theoretische Kompetenz, aber null Jahre Erfahrung mit Themen aus dem Autismusspektrum haben.

Das Thema „Autismus“ ist leider noch so unbekannt, dass wir als Eltern häufig erstmal stolpern und orientierungslos sind, wenn wir ein Kind im Spektrum haben. Wir müssen den Elternstolz ganz neu definieren. Aber woran liegt das eigentlich?

In der Gesellschaft kommt das Thema „Autismus“ doch durchaus vor. Aber wenn man sich beispielsweise die Medien als Abbild der Gesellschaft genauer ansieht, fällt auf, dass das Bild, das über Menschen im Spektrum gezeichnet wird, ein recht einseitiges ist. Netflix-Serien, die Menschen im Spektrum zeigen, sind kurzweilig und wollen entertainen. Die Serienhelden haben zwar ihre Besonderheiten, müssen als Protagonisten aber offenbar eine Norm erfüllen. Sam Gardner aus „Atypical“ ist ein hervorragender Schüler mit ausgezeichneten Noten, Sheldon Cooper aus „Big Bang Theory“ ein herausragender Wissenschaftler, Dr. Murphy aus „The good doctor“ glänzt mit seiner medizinischen Inselbegabung. Das Bild, das „Rain Man“ vor vielen Jahren gezeichnet hat, scheint immer noch die einzig denkbare Lebensmöglichkeit zu sein: Autismus, ja das gibt es, aber nur bei Genies.

Natürlich kann es vorkommen, dass ein Kind im Spektrum ein Genie ist. Aber all diejenigen Kinder, die dies nicht sind, sind genauso liebenswert, geben genauso Grund, stolz zu sein. Ein Mensch im Spektrum muss genauso wenig genial sein, wie ein Mensch, der nicht im Spektrum ist. Besondere Bedürfnisse müssen nicht durch Genialität ausgeglichen werden. Die mit dem Mainstream-Bild verbundene subtile Botschaft „Autismus ja, aber nur wenn er genial ist“ finde ich höchst bedenklich.

Alle Kinder sollten gesehen und akzeptiert werden, so wie sie sind. Das gilt für Kinder mit genauso wie für Kinder ohne Autismus. Kinder im Spektrum müssen nicht genial sein, um ihre Eltern stolz zu machen. Sie müssen nur einfach sie selbst sein dürfen. Genau wie alle anderen Kinder auch. Damit sie das können, braucht es mehr Empathie für besondere Bedürfnisse in der Breite der Gesellschaft. Es braucht Verständnis dafür, dass manche Menschen ohne ein geräuschreduziertes Setting nicht lernen können. Oder dass ein Schwall von Schimpfwörtern vielleicht nicht als Beleidigung gemeint ist, sondern nur Ausdruck einer völligen Überreizung. Eine realistischere Darstellung in den Medien könnte zum Verständnis beitragen, indem sie zeigt, was es bedeutet, zwischenmenschliche Verständnisschwierigkeiten zu haben. Warum ist es beispielsweise schwierig, Augenkontakt aufzunehmen oder wie fühlt es sich an, wenn man überfordert ist von zu vielen Reizen. Gerade in Filmen und Serien könnte dieser letzte Aspekt mit Bildern und Tönen das begreifbar machen, was sich mit Worten nicht erklären lässt.

Verständnis für andere Wahrnehmungen kann eine Brücke bauen zwischen Menschen im und außerhalb des Spektrums. Das Manifestieren des Stereotyps „gefühlskaltes Genie“ kann das sicherlich nicht. Das Leben ist bunt und divers. Jeder Mensch bringt etwas Eigenes, Buntes, Vielfältiges in diese Welt ein, das gesehen werden will. Jeder Mensch hat etwas, das seine Eltern stolz macht. Dafür braucht es keine Genialität als Gegenleistung für besondere Bedürfnisse. Dafür kann er oder sie nur er bzw. sie selbst sein. Und nur das sollten wir Eltern wahrnehmen.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de