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Es gibt immer einen guten Grund

Grafik "Autismus er-leben"

Mehr Toleranz gegenüber einer anderen Wahrnehmung

In der gesellschaftlichen Diskussion und im täglichen Zusammenleben hat „Toleranz“ eine ganz zentrale, wichtig Bedeutung. Wir diskutieren aktuell über Zuwanderung, Geschlechtergerechtigkeit, Geschlechtsidentität, freie Religionsausübung, klimapolitische Protestaktionen, Inklusion etc. und ihre Auswirkungen auf unser Zusammenleben als Gesellschaft in Deutschland. Hinter allen Themen stehen Menschen, die anders denken, handeln, fühlen und als Teil unserer Gesellschaft Anerkennung und Respekt verdienen. Wir sind gefordert, uns zu bewegen und einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Welchen Vorurteilen und Bewertungen begegnen Menschen auf Grund ihrer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung? Fühlen sie sich ernsthaft wahrgenommen und wirklich akzeptiert in ihrem Anderssein?

Auch Menschen im Autismus-Spektrum sind „anders“. Sie verhalten sich oft anders, als erwartet. Sie zeigen zum Teil heftige und sehr emotionale Reaktionen in scheinbar „normalen“ Alltagssituationen. Das Zusammenleben – besonders im familiären Rahmen – kann so zu einer ständigen Herausforderung für alle Beteiligten werden. Die Mutter eines zwölfjährigen Sohnes aus dem Autismus-Spektrum beschreibt ihren persönlichen Lernprozess in Bezug auf die eigene Wahrnehmung, Toleranz und starre Bewertungsmuster.

Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“ bei Wahrnehmungen

Die krassesten Schimpfwörter fliegen durch die Luft, heftige Beleidigungen, schlimmste Verwünschungen bis hin zum hoffentlich baldigen Ableben. Für Unbeteiligte sieht es nach extremem Unrecht aus, das hier jemandem angetan wird. „In Wirklichkeit“ bedrohen nur zwei Schuhe meinen Sohn, die jetzt an seine Füße sollen, damit er zur Schule losgehen kann.

Für Außenstehende ist es nur ein Paar Schuhe, das an die Füße eines durchschnittlichen Zwölfjährigen soll, und die Reaktion auf diese simple Situation völlig unangemessen. Aber mein Sohn ist nicht durchschnittlich und dies ist für ihn keine simple Situation. Den Schuhen sieht man nicht an, was in ihnen steckt: die tickende Uhr, der Druck des Abschieds, das Losgehen-müssen, die noch nicht gesagten Worte, das Sich-einlassen-müssen auf den Ortswechsel, den Temperaturunterschied, die Identitätsfrage (sind diese Turnschuhe wirklich cool genug?) oder die unmittelbar bevorstehende Konfrontation mit anderen Menschen. Ein Berg von Emotionen!

Genauso wie die Gefühle den Schuhen nicht anzusehen sind, ist meinem Sohn der Autismus nicht anzusehen. Und doch ist er unser täglicher Begleiter und prägt unser Leben. Er stoppt uns in unserer Eile, zwingt uns zum Umdenken, hält uns einen Spiegel vor und führt uns immer wieder an unsere Grenzen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an allem zweifle, was mir bislang als absolute Wahrheit in Fleisch und Blut übergegangen war. „Kinder brauchen Grenzen!“ – aber was, wenn die Wahrnehmung des Kindes ihm schon genug Grenzen setzt und jede weitere Grenze eine zu viel für ihn ist? „Kinder brauchen Konsequenz“ – aber was, wenn das Kind die Situation völlig anders wahrnimmt als ich? Was für eine Konsequenz soll das sein, die vom Kind völlig inkonsequent wahrgenommen wird, weil er eine andere Situation erlebt als ich?

Der Autismus hat unser Leben auf den Kopf gestellt und uns vieles über das Leben gelehrt. Früher dachte ich, ich sei ein toleranter Mensch. Aber war ich das? Aus heutiger Sicht würde ich das verneinen. Weil ich Toleranz immer nur im Rahmen meiner eigenen Wahrnehmung und als großzügigen Wesenszug von mir wahrgenommen habe. Toleranz funktioniert aber nur, wenn die eigene Wahrnehmung nicht mehr als die einzig richtige angesehen wird. Erst wenn ich erkenne, dass andere Menschen andere Wahrnehmungen haben, dass meine Bewertung nicht die entscheidende ist, dass es kein „richtig“ oder „falsch“ beim Wahrnehmen gibt, dass jede Situation durch die Gefühle der verschiedenen Personen komplett unterschiedlich wahrgenommen werden kann, und erst wenn die andere Wahrnehmung die gleiche Gültigkeit hat wie meine, erst dann fange ich an, tolerant zu werden. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Ich bin nicht tolerant, wenn ich es lächerlich finde, dass ein paar Turnschuhe meinen Sohn aus der Fassung bringen. Denn dann stelle ich meine Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Toleranz beginnt, wenn ich mir keine Gedanken über den Auslöser mache, wenn ich die Berechtigung der Wut nicht mehr in Frage stelle, sondern sie einfach als gegeben hinnehme, denn sie hat ihren Grund. Eine ganz wesentliche Erkenntnis für mich: Das Tun meines Kindes hat einen guten Grund.

Im Laufe der Jahre haben wir vieles erlebt, sind gemeinsam gewachsen an herausfordernden Situationen und daran, mit dem Unverständnis der Umwelt umzugehen. Wir sind dadurch stärker geworden und klarer. Ich wünsche mir, dass auch andere, die mit Kindern im Autismus-Spektrum umgehen – Lehrkräfte, Bezugspersonen, Betreuungspersonal – ein besseres Verständnis dafür bekommen, dass Wahrnehmungen unterschiedlich sind und dass es niemandem nützt, wenn immer nur der eigene Bewertungsmaßstab angelegt wird. Mehr Toleranz gegenüber (un-)vorhersehbarem Verhalten, weniger Verurteilungen und Bewertungen würden Raum lassen für mehr Kreativität, entspanntere Kinder und mehr Unbeschwertheit.

Deshalb lautet mein Appell an alle, die mit Kindern im Spektrum zu tun haben: Es gibt einen guten Grund – versuche nicht, gegen das Verhalten des Kindes anzukämpfen, sondern erkenne die Berechtigung für dieses Verhalten an und das Leben wird einfacher für alle Beteiligten!

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de