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Super-Mom oder doch Versager-Mom?

Grafik "Autismus er-leben"

Ein Jahr „Autismus er-leben“ – und wir bleiben dran

Ein Jahr gibt es nun schon unsere kleine Serie „Autismus er-leben“. Wir haben sie im Jahr 2023 anlässlich des Welt-Autismus-Tages ins Leben gerufen, um über Autismus, Neurodiversität und Menschen zu berichten, die mit unterschiedlichen neuronalen Bedingungen ihren Alltag meistern. Im zurückliegenden Jahr haben wir Geschichten und Informationen gesammelt, darunter viel Erfahrungsberichte von Eltern, deren Kinder wir therapeutisch betreuen. D.h. ohne unsere Autor:innen, die mit ihren Erfahrungen und persönlicher Betroffenheit auf diese Weise in die Öffentlichkeit gehen, wäre diese Rubrik um vieles ärmer.

Deshalb bedanken wir uns bei allen Autor:innen – aufrichtig und voller Anerkennung – für ihren Mut und ihre Offenheit, über so persönliche Erfahrungen, Gedanken und die eigenen Gefühle zu schreiben! Wir sind überzeugt, dass es wichtig ist, auf anschauliche und persönliche Weise mehr über Menschen im Autismus-Spektrum und ihre Angehörigen zu erfahren. Wir wollen dazu beitragen, dass Neurodiversität nicht mehr als negativ besetzte „Behinderung“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Vielmehr wollen wir positiv auf die besonderen Fähigkeiten, die Sensibilität und außergewöhnlichen individuellen Ressourcen und Begabungen von Menschen aus dem Autismus-Spektrum hinweisen, die eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellen, nicht ein Defizit.

Im Alltag stehen Eltern oft allein mit viel Selbstzweifel da, fragen sich, ob sie nun versagt haben oder zu perfekten (Familien-)Manager:innen geworden sind. Sie müssen sich ständig mit den Reaktionen ihres Umfeldes auseinandersetzen, das sich häufig zwischen Mitleid und Bewunderung bewegt. Wie es einem dabei ergehen kann, beschreibt im Folgenden eine Mutter mit ihrem „Pimpf“.

Leben mit meinem Pimpf

Ich wurde von Miriam Vogt, Leiterin der Dualen Autismus- und Familientherapie bei Zephir, gefragt, ob ich nicht vielleicht einen Artikel für deren Website schreiben möchte. Mein erster Gedanke: „Nö!“ Mein Zweiter ging direkt über in ein wirres Gedankenkarussell an Ideen und Dingen, die ich gerne sagen würde. Oder eher: in die Welt hinausschreien will. Und vielleicht dazu ein paar Leute schubsen. Oder auch mehrere.

Und jetzt sitze ich hier heulend am Boden und hab bereits drei Seiten vollgekritzelt, die ich später ganz vielleicht noch ein wenig ordnen möchte. Und wer auch immer das hier liest, darf frohlocken, denn ich habe tatsächlich so etwas wie Ordnung in alles gebracht. Der Gedanke, der sich am hartnäckigsten in meinem Kopfchaos durchgesetzte hat, war der, wie unglaublich blöd ich den Satz „Ich bewundere dich“ finde. Klingt er in meinen Ohren doch viel mehr nach „Ich bemitleide dich…“.

Bewunderung für die Super-Mom?

Ich habe darüber nachgedacht, dass ich nicht ansatzweise die coole Super-Mom bin, die ihr zu sehen glaubt. Dass ich manchmal denke, ein Glas Wein ist ein vollwertiges Abendbrot, während ich meinem Pimpf zum sechsten Mal in dieser Woche Nudeln koche, weil er nichts anderes will (Aber hey, es sind Bio-Dinkelvollkornnudeln, okay?). Dass ich viel zu oft heulend vor einem Papierberg an Formularen für Hilfsmittel oder Förderung sitze und der Wunsch, eine Flasche Gin zu leeren und das Handtuch zu werfen, genauso groß ist wie meine Hoffnung, dass alles leichter wird, wenn ich nur noch diesen einen Antrag gestellt habe.

Was genau bewundert ihr? Dass ich es nach einer schlaflosen Nacht geschafft habe, den Pimpf und mich anzuziehen und rauszugehen? Dass ich der blöden Rentnerin, die mir in der Bahn sagt, früher hätten sie ihre Kinder ganz ohne Handy erzogen, nicht mein Smartphone, auf dem der Pimpf sich gerade mit Google Maps vergnügt, an den Kopf geworfen habe? Dass ich, wenn der Pimpf völlig überreizt und überfordert mit der Welt mitten auf dem Weg stehen bleibt und einfach weint und schreit, ruhig bleibe, weil ich keine Ahnung habe, was ich machen soll, außer ihn zu halten? Was, verdammt nochmal, bewundert ihr?

Es war sowohl meine Entscheidung, den Pimpf zu gebären, als auch meine, ihn zu behalten. Und jetzt lebe ich damit, denn es ist mein Leben und mein Weg. Würdet ihr mich auch bewundern, wenn der Pimpf ein „ganz normaler“ ekelhafter Teenie mit seinen Launen wäre? Ich gebe zu, dass ich mit so viel Wut auf diesen Satz reagiere, ist vielleicht nicht ganz fair. Es gibt Menschen, denen ich es absolut glaube und von denen ich diesen Satz auch brauche.

Von meiner besten Freundin zum Beispiel. Weil ich weiß, dass sie damit sagt: „Wow, Babe, ich bewundere es, dass du heute nach den zwei Stunden Schlaf und dem nervigen Elterngespräch noch Zeit für mich gefunden hast. Dass du mir mit einem ehrlichen Lachen erzählst, wie der Pimpf entschieden hat, dass er heute nicht in der Stimmung für Hosen ist und du, um morgendlichen Stress zu vermeiden, in der Schule einfach angerufen hast und meintest, er wäre krank, und ihr euch einen seligen Pizza-auf-dem-Sofa-Tag macht. Dass du immer wieder aufstehst, wenn du heulend auf dem Boden sitzend die Welt verflucht hast.“

Kein Mitleid – bitte!

Aber meistens macht der Satz mich wütend. Und die Wut ist gut, denn sie verhindert, dass ich wieder und wieder in Selbstzweifeln und Schuldgefühlen versinke und mich selbst als absolute Versager-Mom sehe. Darum, bevor ihr „Ich bewundere dich“ sagt, überlegt bitte genau, ob ihr nicht ganz vielleicht doch eher meint: „Ich bemitleide dich“. Denn so fühlt es sich häufig an. Ob das jetzt fair ist oder nicht.

Vielleicht schreibe ich den Artikel, vielleicht nicht.
Vielleicht schubse ich einfach die nächste Person, die uns auf der Straße blöd anguckt.
Vielleicht breche ich auch das nächste Mal, wenn mir irgendeine Person aus der Nachbarschaft sagt, sie würde mich bewundern, in hysterisches Lachen oder Weinen aus.
Vielleicht koche ich jetzt auch einfach Nudeln und gieße mir ein Glas Wein ein und zeig der Welt den Mittelfinger.
Heulen kann ich später immer noch. Wenn der Pimpf satt, sauber und selig im Bett liegt.

Und nun frohlocket, denn diesen letzten Satz hier habe ich eben erst hinzugefügt, nachdem ich meinen kleinen, wütenden Mittelfingerartikel noch einmal überarbeitet habe, um ihn dann an Zephir zu schicken.

Und das ist bewundernswert: dass ich über meinen Schatten gesprungen bin und meine Gedanken hier teile.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de