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Welches Verhalten ist „normal“?

Grafik "Autismus er-leben"

Nonkonformes Verhalten wird oft abgelehnt

Familien mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum erleben im Alltag häufig herausfordernde Situationen. Sie fallen auf, ecken an, stören. Oftmals begegnen ihnen Unwissenheit, Intoleranz, Ablehnung bis hin zu Aggression von Mitmenschen. Warum? Weil sich die Kinder nicht gemäß der gesellschaftlichen Norm und damit verbundenen Erwartungen verhalten. Autismus ist – im Gegensatz zu anderen zugeschriebenen Behinderungen – zunächst unsichtbar. So wird Eltern aus Unkenntnis oft mangelnde Erziehungskompetenz und fehlendes Durchsetzungsvermögen unterstellt. Wird dann erklärt, warum sich ein Kind „anders“ verhält, reagieren einige mit Verständnis. Nun hat das Kind das Recht, sich ungewöhnlich zu verhalten, anders zu sein. Ist das nicht auch etwas erschreckend?

Kreislauf von negativen Reaktionen beginnt

Was bedeutet es für die Eltern oder andere Angehörige, wenn plötzlich gestarrt, gemaßregelt oder gar gedroht wird?! Es geht um ein Kind – ihr Kind, welches genauso das Recht hat, angenommen zu werden, wie andere. Und das Kind? Es zeigt ein unerwartetes Verhalten – vielleicht durch großen Stress bedingt: Bewegung, Lautäußerungen, Aggression, Rückzug etc. Dabei ist es aufs Höchste sensibilisiert, angespannt, fokussiert, nimmt präzise wahr, auch wenn es manchmal nicht so scheint. Vor allem, wenn es nicht spricht. Zudem spiegelt es auch den Stress der anderen Beteiligten.

Wer belastet also wen? Diejenigen, die sich vermeintlich „normal“ verhalten und dagegen sog. „autistisches“ Verhalten als „störend“ empfinden und durch ihr Verhalten noch mehr Stress für Menschen im Autismus-Spektrum und ihre Angehörigen produzieren? Durch die Erwartung von „normgerechtem Verhalten“ entsteht eine negative Reaktion und darauf folgt die nächste negative Reaktion – ein Teufelskreis, in dem es nur noch Verlierer:innen auf allen Seiten gibt.

Alltagserfahrungen: Plötzlich Stress und Wut bei allen

Sehr plastisch und berührend schildert Teresa, Mutter eines autistischen Kindes, ein verstörendes Erlebnis:

Ein Restaurant am See im Wald am Rande der Großstadt, an der Wand hängen wunderbare Zeichnungen von Menschen mit Behinderung. Einige Tische sind besetzt, darunter Familien mit kleineren Kindern. Und wir vier. Dann noch eine größere Tafel mit zwölf Menschen, allesamt im Alter um die 50. Sie essen, unterhalten sich angeregt. Und wenig später fühlen sie sich von einem kleinen, 5-jährigen Jungen gestört, der leise um ihren Tisch herum Runden geht.

Er ist friedlich, lächelt, berührt niemanden, rennt nicht, sondern geht lautlos. Er ist kaum zu bemerken und kaum größer als die Leute auf ihren Stühlen. Er strahlt uns an. Es ist unser Junge. Wir strahlen zurück. Unser wunderbarer Junge, unser Sonnenschein, unser Alles – ein Engel, der niemandem etwas tun würde.

Eine Frau aus der Runde dreht sich zu ihm um und spricht ihn harsch an, er solle aufhören, um den Tisch zu gehen. Er reagiert nicht – denn er versteht nicht – und geht weiter. Sie schüttelt den Kopf, während sie mit ihrem Besteck hantiert, isst genervt weiter. Getuschel. Verächtliche Blicke zu unserem Jungen, zu uns, die uns auffordern, unser Kind zu uns zu holen. Ja, hasserfüllte Blicke zu einem Kind, das friedlich um einen großen Tisch geht und nichts macht. Nicht schreit, nicht rennt. Man kann ihm seine Behinderung nicht ansehen. Und es spielt in dem Moment aber gar keine Rolle, ob er die Behinderung hat oder nicht. Zwölf Erwachsene stören sich daran, dass ein friedlicher kleiner Junge einfach nur da ist. Ich sehe, wie sie ihn ablehnen, uns ablehnen, die wir nicht einschreiten.

Ein Mann aus der Runde steht auf, greift unserem Sohn von hinten unter die Arme und trägt ihn wie einen Gegenstand meinem Mann entgegen. Der Mann fühlt sich als Held, weil er in der Situation „anpackt“ und „einschreitet“, wo wir haben gewähren lassen. Grunzendes Gelächter aus der Gruppe. Mein Mann ruft dem Typen zu: „Fassen Sie mein Kind nicht an!“. Er erklärt, dass mein Sohn Autist ist und würden wir ihn an seinem Platz an unserem Tisch halten wollen, er schreien würde. Er fragt, warum es die Gruppe so stört, dass er rumläuft. Keine Antwort, sondern weiterhin Ablehnung, Zurückweisung.

„Nehmen sie ihn einfach weg!“ Ich beobachte aus der Entfernung und zittere. Meine Tochter neben mir hält meine Hand. Ich bestelle den Apfelstrudel schnell ab. Als wir wenig später gehen, geht mein Mann nochmal hin zu der Runde und sagt: „Schämt euch!“ Als mein Mann aus der Tür geht, ruft jemand: „Toller Vater!“ und „…müssen ihn mal erziehen!“ Mein Mann ruft zurück: „Vollidioten!!!“

Wir stehen auf dem Hof und verarbeiten das Erlebte. Jemand aus der besagten Gruppe kommt über den Hof aus Richtung der Außentoilette. Mein Mann ruft ihm zu: „Was sollte das?“ Der Typ kommt zu uns rüber. Ist bereit für weiteren Stress mit meinem Mann. Bei mir brechen alle Dämme. Tränen der Wut laufen über meine Wangen, ich lege dem Typen die Hand auf den Arm, damit meine Worte ihn erreichen und schluchze ihn an: „Weißt du, was das mit uns macht als Eltern??!! Wie uns das weh tut?? Unser Junge ist wie ein Sonnenschein um euren Tisch gegangen. War ganz still! Weißt du, mit wie viel Hass ihr ihn alle angeschaut habt??! Was hat er euch getan?! Wie sollen wir uns fühlen!!!???“ Es scheint ihm leid zu tun, er streitet ab, druckst rum. Jetzt schämt er sich. Ich zeige zum Restaurant und rufe: „Sag es den anderen…!“ Er bejaht und geht. Mit eingezogenem Schwanz könnte man sagen.

Der Tag war gelaufen. Ich habe es nicht aus dem Kopf gekriegt. Ich hätte stark sein und nicht weinen sollen. Ich konnte es nicht. Es waren Tränen der Wut. Ich habe weiter Richtung Zukunft gedacht und die Ablehnung aus der Runde auf die Gesellschaft im Allgemeinen übertragen, die auf meinen Jungen da draußen wartet. Es bricht mir das Herz. Fühlst du es auch?

Erste Hilfe: Unsere Autismus-Kärtchen

Unsere Fachkräfte hören in unseren Therapiestunden und Elterntreffs häufig von solchen schlechten Erfahrungen. Was können Eltern in solch einer angespannten Situation tun? Unsere Idee: Das Verteilen von unseren Autismus-Kärtchen, ohne dass man noch viele Worte machen muss.

Kärtchen mit mehreren Sätzen zu Erklärung, dass es sich um eine Familie mit einem Kind aus dem Autismusspektrum handelt.

Sie informieren und erklären kurz und knapp, was sich in diesem Augenblick abspielt. Sie sind für die umstehenden Beobachtenden/Beteiligten eine Hilfe, die ungewöhnliche Situation besser einzuschätzen und vor allem ihr eigenes Verhalten anzupassen bzw. zu korrigieren. Sie können also deeskalierend wirken und entlasten Eltern bzw. Angehörige. Sie verschaffen Zeit, um die Situation positiv zu verändern.

Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff

Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de