Wie man zur Autismus-Therapeutin wird…
Autismus und Neurodiversität generell finden erst seit ein paar Jahren mehr gesellschaftliche und auch wissenschaftliche Beachtung. Experten, Testungen und Therapien stehen nun Menschen aus dem Autismus-Spektrum und ihren Angehörigen zur Verfügung. Der professionelle Zugang zum Thema ist noch sehr unterschiedlich, da es keine festgeschriebenen Ausbildungswege gibt. Miriam Vogt, Leiterin des Bereichs „Duale Autismus- und Familientherapie“ bei Zephir gGmbH schildert, wie sie zu ihrer Profession und Haltung gegenüber Menschen aus dem Autismus-Spektrum kam.
Meine erste Begegnung mit Autismus
Mit dem Abi in der Tasche entschloss ich mich, vor meinem Studium ein Freiwilliges Soziales Jahr zu absolvieren. Ich wollte in Kontakt mit dem Thema Neurodiversität kommen, auch wenn der Begriff seinerzeit noch wenig populär war. Außerdem wollte ich mich und meine eigenen Grenzen in der Begegnung mit Menschen mit zugeschriebenen Behinderungen besser kennenlernen. Ein Musikstudium war angedacht, doch schnell kam es ganz anders.
Selin
In der heilpädagogischen Einrichtung, in der ich arbeitete, durfte ich Selin kennenlernen. Sie war sechs Jahre alt und hatte die Diagnose „Frühkindlicher Autismus“. Im Nu war es um mich geschehen! Dieses kleine, scheinbar allem erhabene Mädchen, glich einer weisen Gestalt. Ihr meist ernstes Gesicht schien nicht zu einem kindlichen Wesen zu passen. Sie warf mit – auf den ersten Blick – kontextfreien Floskeln um sich, betitelte Dinge neu oder um. Begriffen nur wir es nicht? So registrierte sie auch bei geschlossenen Fenstern als einzige das Flugzeug in der Ferne und flitzte zum Fenster, von wo aus sie es zu sehen versuchte. Mit ihrem sehr charakteristischen Blick – ihr Kopf neigte sich leicht zur Seite und sie fixierte den Himmel aus ihrem Augenwinkel – hielt sie Ausschau und stieß in einer ungewöhnlich melodischen Weise Tiernamen aus. Ihre Faszination, während sie Gegenstände, feinste Details oder teilweise auch sich selbst gespiegelt in einem Löffel beobachtete, ergriff mich. Ihre Besonnenheit und Hingabe in bestimmten Situationen waren außergewöhnlich. Manchmal setzte ich mich mit ihr ans Klavier. Hier hätte sie sich stundenlang aufhalten und Klänge produzieren können. Dann gab es Momente, in welchen sie scheinbar unvermittelt verstimmt war. Diese Gefühle wurden extrem ausgelebt und forderten ihr Umfeld stark heraus. All diese zu beobachtenden Wesensarten mussten sich doch begründen lassen!? Ich begann zu lesen, Bücher über Autismus zu inhalieren. An Loslassen war nicht mehr zu denken. Dem Thema „Autismus“ galt von nun an mein ganzes Interesse. Was wohl aus Selin geworden ist?
Missverständnisse um Autismus
Heute kann ich viele meiner beschriebenen Beobachtungen erklären und einordnen. Was aber zählte, war, dass dieses Kind mich, in seiner Weise zu sein, berührt hat. Es hat mir gezeigt, dass es viele Blickwinkel auf das Leben zu geben scheint.
Zu sagen, es würde mich irritieren, wenn Menschen auf die von mir beantwortete Frage nach dem Beruf sagen „Das muss schwer sein… Man kriegt ja gar nichts zurück“, ist milde ausgedrückt. Menschen aus dem autistischen Spektrum beeindrucken und berühren mich Tag für Tag. Ich lerne immer mehr – über sie, wie über mich. Wenn ich an die vielen Kinder und auch Jugendlichen / Heranwachsenden denke, schießen mir folgende positive Attribute in den Kopf: offenherzig, rein, echt, zugewandt, feinfühlig, smart usw. Manchmal möchte ich die Gesellschaft gern durchschütteln und alle erleben lassen, was ich im Kontakt erlebe. Er bereichert und schenkt einem die Möglichkeit, den eigenen, oft so eingeschränkten Blick auf das Leben zu variieren und zu erweitern.
(M)ein Dank an Euch – Eindrücke aus meiner therapeutischen Praxis
- B., Du vermittelst uns, wie viel Freude man in den einfachsten Situationen empfinden kann.
- H., Du hast in wenigen Monaten Entwicklungssprünge gemacht, bei denen anderen neurotypischen 4-Jährigen normalerweise schwindelig geworden wären. Es ist überwältigend, das miterleben zu dürfen!
- M., ich lerne so viel über die Art und Weise, wie Du die Welt wahrnimmst, wenn Du sie in Deinen Worten umschreibst.
- E. & L., Euer oft begründet kritischer Blick sollte eigentlich Reformen anstoßen.
M., Deine Gedankenketten und Aphorismen sind unfassbar inspirierend. - J., von Deiner so liebevollen Ausdauer und anhaltenden Freundlichkeit, Dich verständlich zu machen, könnten sich so viele eine Scheibe abschneiden.
- F., der Kontakt mit Dir ist förmlich magisch – danke, dass Du uns in Dein Erleben eintauchen lässt.
- N., Deine Auffassungsgabe für komplexeste Zusammenhänge und Deine Entschlossenheit sind einfach nur beeindruckend.
- V., Dein kluges Strahlen muss man erlebt haben.
- L., Du überraschst uns immer wieder mit Fähigkeiten, welche gerade scheinbar noch im Verborgenen waren. Du kombinierst und erfasst mehr, als die meisten erkennen.
So könnte ich ewig fortfahren…
Was Euch alle eint, ist ein so hohes Maß an Sensibilität und Feinsinnigkeit und ein Erleben, welches bestimmt oft sehr stressbelastet und doch so bereichernd ist. Ich hoffe, dass die damit einhergehenden Vorurteile wie Herausforderungen nach und nach besser erkannt werden. Ich wünsche uns allen, dass es gelingt, unser Umfeld mehr an Menschen mit einer intensiveren Wahrnehmung und hyperplastischen Gehirnen anzupassen.
Danke, dass ich Euch kennen lernen und auf Eurem Weg begleiten darf.
Duale Autismus- und Familientherapie und Elterntreff bei Zephir gGmbH
Zephir gGmbH bietet für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Eltern/Angehörigen eine „Duale Autismus- und Familientherapie“. Alle sechs bis acht Wochen veranstalten wir außerdem einen Elterntreff, bei dem sich Eltern/Angehörige von Kindern im Autismus-Spektrum untereinander austauschen und gegenseitig unterstützen können. Sprechen Sie uns bei Interesse gerne an.
Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de
Unsere Arbeit wird gefördert durch die Berliner Jugendämter.