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Unser Leben mit Autismus

Grafik "Autismus er-leben"

Menschen im Autismus-Spektrum verstehen

Appell zum Welt-Autismus-Tag am 2. April 2023

Das Verhalten von Menschen aus dem autistischen Spektrum wird von Außenstehenden teilweise als herausfordernd beschrieben und wahrgenommen. Manche stören sich daran, oft wird es als „von der Norm abweichend“ empfunden. Diese Einschätzung entsteht meist aus Unkenntnis. Es fehlen Informationen über Neurodiversität und ihre unterschiedlichen Ausprägungen.

Viele, scheinbar „ungewöhnliche“ Verhaltensweisen haben einen sehr wichtigen Grund: Stress aushalten. Das beobachtbare Verhalten eines Menschen aus dem Autismus-Spektrum ist immer gut begründbar. Wofür steht das Verhalten? Warum entsteht es?

Stressmanagement in einer überfordernden Welt

Stressempfinden setzt bei Menschen im Autismus-Spektrum früher ein. Diese Menschen erleben „unsere Welt“ in all ihren Facetten höchst intensiv. Wir können es uns nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, jedes Gefühl, jede Schwingung, Gerüche, Geräusche, Lichter, Farben, Bewegungen, vielleicht sogar den eigenen Herzschlag u.v.m. um ein Vielfaches intensiver zu erleben. Menschen im Autismus-Spektrum kennen es nicht anders. Vermutlich würde jeder von uns ausrasten, schreien, verzweifeln, wenn andauernd alles viel zu extrem erlebt wird – ohne jede Pause.

Menschen im Autismus-Spektrum sind sehr empfindsam, dabei aber auch höchst kreativ und erfinderisch, Lösungswege zu entwickeln. Ihre Umwelt verändert sich nicht zu ihren Gunsten – ganz im Gegenteil. Ihre Bewältigungsstrategien münden oft in einem Sich-abschotten oder in wiederholenden Bewegungen – als Schutz! Gleichbleibendes und Wiederholungen, wie z.B. eine Drehbewegung, bieten Sicherheit in dem Chaos draußen.

Würdigung und gesellschaftliche Anpassung

Und das stört uns?! Wir sollten es würdigen als gelungene Kompensation und den Versuch, sich an uns anzupassen. Und mehr noch: Könnten wir damit nicht anders, positiver umgehen? Liegt es nicht an uns, Kinder, welche mit dieser besonderen Art wahrzunehmen in dieses Leben kommen, zu unterstützen, zu verstehen und ihr Umfeld auch an sie anzupassen?! Warum ist es in dieser Gesellschaft so selbstverständlich, dass gerade die Menschen, welche unverschuldet anders erleben, sich anpassen müssen? Sollten nicht auch wir daran arbeiten, uns anzupassen? Und sollte aus dem „Ihr“ und „Wir“ nicht ein „Uns“ werden?

Start der Reihe „Autismus er-leben“

Der Welt-Autismus-Tag am 2. April jeden Jahres bietet Anlass, um über Autismus und seine differenzierten Ausprägungen in der Öffentlichkeit zu informieren, für mehr Aufmerksamkeit und Verstehen zu werben. Wir – das Autismusfachteam von Zephir gGmbH – wollen dazu beitragen: mit Momentaufnahmen, die Alltagssituationen von jungen Menschen im Autismus-Spektrum und ihren Eltern schildern, und mit fachlichen Inputs und Statements zu verschiedenen Aspekten zum Leben mit Autismus.

Wir starten mit dem heutigen Beitrag „Die Sezierung des Weltrauschens“ von Rebekka Migotti, Mutter eines autistischen Sohnes, unsere Reihe „Autismus er-leben“. In regelmäßigen Abständen werden wir auf unserer Homepage in Zusammenarbeit mit jungen Menschen und Eltern, die wir im Rahmen unserer „Dualen Autismus- und Familientherapie“ bei Zephir gGmbH  therapeutisch begleiten, die Reihe fortsetzen.

Ansprechpartnerin:
Miriam Vogt (Bereichsleitung), Tel.: 0159 – 06 14 52 81 oder vogt@zephir-ggmbh.de

Die Sezierung des Weltrauschens

Die persönliche Sicht einer Mutter auf die Gaben und Herausforderungen des Autismus

Ein paar Meter von mir entfernt, stehst du vor der großen Fontäne, die vor dir dem Himmel entgegen schießt. Weit oben, von der Erdanziehungskraft zurückgehalten, zerfällt der Wasserstrahl in abertausende Einzelteile – immer feiner, immer kleiner. Diese natürliche Anordnung, die so zufällig erscheint und doch einer Gesetzmäßigkeit folgt, hat eine tiefberuhigende Wirkung auf mich. Deswegen fiel es mir auch nicht schwer, noch länger zu bleiben, als bereits die zweite Stunde angebrochen war, seitdem du den Ton angegeben hattest, um uns hierher zum heißgeliebten Springbrunnen zu führen. Seit dem ersten Sichtkontakt war merklich, wie viel Euphorie und Begeisterung deinen Körper durchströmt und in was für Welten der Gefühle du bei diesem Anblick gehoben wirst. Getrieben durch ein Dauerfeuer an Aktionspotenzialen steht dein kleiner Körper nun schon über eine Stunde unter Strom. Dein Gesicht, jetzt von großer Freude gezeichnet, im nächsten Moment hochkonzentriert. Mal hüpfst du auf Zehenspitzen, mal flattern deine Arme, als wollten sie dich nach oben zu einer besseren Aussicht tragen. Fast täglich sind wir hier und doch wirst du nicht müde, dieses Spektakel näher und intensiver zu betrachten. Was erreicht dich zwischen all den zerfallenden Tropfen, dem Rauschen des Wasserstrahls und den Brechungen des Lichtes? Ich möchte es so gerne wissen. Denn mir bleibt es verborgen.

Selten erlebe ich Menschen, die so gefesselt, so begeistert, so mitgerissen von etwas sind, wie mein Sohn. In meiner Kindheit waren Persönlichkeiten, die über Jahre hinweg überdurchschnittlich intensiv einer Sache nachgegangen sind, in der Wissenschaft oder der Kunst verortet. Heute schlägt der Mainstream jedem Arbeitnehmer und Selbstständigem das Erreichen des „Flows“ als „High“-versprechende, kreative und leistungssteigernde Maßnahme vor. Das Aufgehen in einer Tätigkeit, als gesellschaftliches Bestreben, um Erfolg, Sinn und Glück in der Arbeit zu finden. Aber nur wenige schaffen es, diesen Fokus in einer dauerhaften Form zu etablieren. Die Könner in dieser Disziplin liegen meist doch irgendwo im autistischen Spektrum. Auch dir wurde dieses Geschenk der Fokussierung in die Wiege gelegt. Vielleicht eine Laune der Natur – die jedoch Potenzial besitzt, um zu einer evolutionären Taktik zu erwachsen.

Anfangs hatte ich Sorge, dass diese Art von bikonvexer Linse dich nicht über dein Spezialinteresse ‚Wasser‘ hinausblicken lässt. Mit den Jahren kommen jedoch immer mehr Themen hinzu, die dein Faszinationslevel erweitern: Geschwindigkeit, Puzzeln, das intensive Erleben von Musik, das Zusammenstellen von digitalen Klangwelten und die Freude an der zielgerichteten Interaktion mit Technik. Beim Einlassen in diese Tätigkeiten, die dich an die Grenzen deiner eigenen Auflösung bringen können, strahlst du so viel Glück und Zufriedenheit aus, dass ich jedes Mal nur denken kann: „Das ist doch der Zustand, nachdem sich so viele von uns sehnen.“

Was dir weniger gelingt, ist das Einfügen in die kulturell und gesellschaftlich etablierten Regeln und Vorstellungen. Das kann im Gegenüber anecken. Denn es ist schwer verständlich für diejenigen, die die Einhaltung dieser Regeln als eindeutiges Zeichen der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ansehen oder die selbst persönliche Abstriche zum Wohle der Gemeinschaft machen mussten. Sie interpretieren dann in der Kürze der Situation das Fehlen der bekannten Umgangsformen und das Ausbleiben der anerkannten Verhaltensweisen als Geste der Auf- oder Ablehnung. Es braucht jedoch meist Zeit, große Offenheit und manchmal sogar intensiven Kontakt, um die Formen des Ausdrucks von Zugehörigkeit bei einem Autisten, wie meinem Sohn, zu erkennen.

Stellvertretend für alle Betroffenen, für die das Zugehörigkeitsgefühl ein schnell zerbrechliches Konstrukt ist, möchte ich am heutigen Welt-Autismus-Tag unsere Gesellschaft dazu aufrufen, auf einen Autisten oder seine Angehörigen zuzugehen und sie zu fragen, was am gesellschaftlichen Umgang mit Autismus als schätzenswert und was als verbesserungsbedürftig empfunden wird. Denn das Verständnis füreinander ist der Ursprung einer inklusiven Gemeinschaft und die Grundlage für eine gerecht umgesetzte Chancengleichheit. Beides Themen, die aus der Sicht von Autisten, ihren Angehörigen und Unterstützern noch sehr ausbaufähig sind und deren verbesserte Ausgestaltung letztendlich auch unserer Gesellschaft einen Mehrwert bringen wird.

Rebekka Migotti